Kein feministischer Kampftag für Jüd*innen

Berlin, April 2024

Als wir ein paar Wochen vor dem 8. März 2024 zum ersten Mal den Demo-Aufruf von feminism_unlimited lasen, freuten wir uns: Endlich gab es eine feministisch-kämpferische Positionierung, die den selektiven Feminismus der letzten Monate in Bezug auf die Massaker am 7. Oktober kritisierte. Denn um solidarisch mit der palästinensischen Zivilbevölkerung zu sein, ist es nicht notwendig, die Gewalt vom 7. Oktober zu relativieren!

Wir – eine kleine Gruppe FLINTA*, ein Teil des Jüdischen Revolutionskomitees – gewannen den Eindruck, auf dieser Demo würde es beim Thema Israel-Palästina ausnahmsweise nicht darum gehen, sich auf eine Seite zu schlagen, sondern darum, menschlich und feministisch solidarisch mit den zivilen Opfern von Gewalt zu sein – solidarisch mit Jüd*innen und mit Palästinenser*innen, mit Kurd*innen, Jesid*innen, Afghan*innen, und vielen mehr.

Endlich, fünf Monate nach dem 7. Oktober hatten wir das Gefühl, gesehen zu werden; das Gefühl, dass wir bei einer linken feministischen Veranstaltung explizit mitgedacht wurden. Das war bisher in progressiven linken Kreisen keine Selbstverständlichkeit gewesen. Im Gegenteil: Das Schweigen, die Relativierung und Legitimierung der sexualisierten Gewalt an Jüd*innen war der Normalfall und nicht die Ausnahme. Die fehlende Solidarität wurde von der einen Seite des politischen Spektrums damit begründet, dass es sich bei den Massakern des 7. Oktobers um einen legitimen Akt des palästinensischen Befreiungskampfes handelte. Gleichzeitig wurden Jüd*innen von der anderen Seite für z.B. rassistische Narrative instrumentalisiert. Das ist für uns schmerzhaft.

Mehrere unserer Gruppenmitglieder besuchten in den letzten Jahren eine der größten Veranstaltungen am 8. März: die antirassistische Demo der Alliance of Internationalist Feminists. Diese Besuche waren für uns von Unsicherheiten und dem Eindruck geprägt, nicht mitgedacht zu werden und auch nicht willkommen zu sein.

Denn auf diesen Demos wehten ausschließlich palästinensische Nationalflaggen, auf Plakaten wurde die an der Münchner Flugzeugentführung beteiligte Leila Khaled als feministische Ikone gefeiert und auf der Website der Alliance wurde und wird in den Aufzählungen der Diskriminierungsformen, gegen die gekämpft wird, Antisemitismus oder Solidarität mit jüdischen FLINTA* noch nicht einmal erwähnt.

In diesem Jahr lasen wir in Instagram-Posts der Alliance of Internationalist Feminists Zitate wie „Sexual Assault as propaganda to facilitate Genocide in Gaza“ (https://www.instagram.com/p/C0kSxIpMwiO/?img_index=1). Die Teilnahme an so einer Demo, die Gewalt an Jüd*innen normalisiert und legitimiert ist für uns unmöglich. Die Vereinnahmung des Konflikts und das Beziehen komplett einseitiger Positionen führen zudem zu einer Polarisierung die sowohl für Jüd*innen als Palästinenser*innen gefährlich ist. Wir kritisieren eine solche Instrumentalisierung des Israel/Palästina Konflikts – besonders am feministischen Kampftag.

In dem Aufruftext von feminism_unlimited wurden dagegen Gleichzeitigkeiten zugelassen. Es klang als würden wir uns nicht zwischen „Free Gaza“ und „Bring them home“ entscheiden müssen; als würde es in diesem Jahr eine linke Demo geben, die sowohl unsere als auch andere Perspektiven und Erfahrungen mitdenkt und das feministische am 8. März Kampftag wieder in den Mittelpunkt rückt.

So liefen wir mit unserer kleinen Gruppe an diesem sonnigen 8. März gut gelaunt und positiv gespannt zur feminism_unlimited-Demo. Disclaimer: Unsere Demo-Teilnahme war leider trotzdem kein wohltuendes Erlebnis und wir möchten unsere Erfahrung teilen.

Drei Aspekte sollen bei unserer Kritik im Vordergrund stehen: die Diskrepanz zwischen Demo-Aufruf und -Umsetzung, zweitens unser Eindruck als Jüd*innen letztendlich „nicht-Teil-der-Demo-zu-sein“ und „nicht-mitgedacht-zu-werden“ und drittens die Fetischisierung jüdischer Personen auf der Demo.

Die Auftaktkundgebung thematisierte in mehreren Redebeiträgen den 7. Oktober, die sexualisierte Gewalt, die andauernde Gewalt der Geiselnahmen, das Schweigen feministischer Organisationen weltweit dazu und dass der Grundsatz, den Opfern zu glauben, nicht galt, weil diese jüdisch waren. Dass das ausgesprochen wurde und dass es mehrere Stellungnahmen von jüdischen Personen dazu gab, ist enorm wichtig.

Doch mit der Zeit entstand bei uns ein unangenehmes Gefühl im Bauch.

Uns fiel die Einseitigkeit der Redebeiträge der mehrheitlich jüdischen Akteur*innen auf. Es sprachen Sharon Adler AVIVA Berlin, Ruth Halperin-Kaddari, Hashomer Hatzair und die Gruppe Vitka. So sehr wir uns darüber freuten, verschiedene Redebeiträge aus jüdischer Perspektive zu hören – wo blieben die unterschiedlichen Perspektiven der Personen, die in Instagram-Videos für feminism_unlimited zur Demo aufgerufen hatten? Zwar wurde endlich angesprochen, was uns so lange im linken Diskurs gefehlt hatte, aber die andauernde Gewalt gegen palästinensische Zivilist*innen, der Krieg in Gaza, die sexualisierte Gewalt an palästinensischen Frauen und das rassistische Vorgehen gegen Palästinenser*innen in Deutschland wurde mit keinem Wort erwähnt?

Der Impuls der Demo, es solle AUCH, um jüdische FLINTA* gehen, wurde nun zu, es geht NUR um jüdische FLINTA*.

Doch wenn zwei Gruppen – wie beim Thema Israel/Palästina – so heftig und regelmäßig gegeneinander ausgespielt werden, ist es umso weniger okay, nur das Leid von einer Seite zu benennen. Und hierzu muss die Gewalt, die Menschen angetan wird, nicht hierarchisiert oder gleichgesetzt werden – sie ist unterschiedlich und individuell grausam.

Selektive Solidarität ist in beide Richtungen inakzeptabel, und wir trauen als Jüd*innen keiner Person über den Weg, die sich lautstark gegen Antisemitismus und für jüdische Frauen einsetzt und die Gewalt gegen andere Gruppen dabei ignoriert oder weniger wichtig findet.

Bei weiß-christlich sozialisierte Deutschen („wc-Deutschen“) vermuten wir in solchen Fällen „rein symbolische Antisemitismus-Kritik“ oder „wc-Deutsche, die auf der richtigen Seite der Geschichte stehen wollen“. Aber auch Jüd*innen reproduzieren selektive Solidarität. Wir finden es wichtig, sich kritisch mit den Effekten dieses Handelns auseinanderzusetzen.

Denn dieser einseitige Diskurs hilft Jüd*innen nicht! Im Gegenteil: Er ist sogar eine Gefahr für uns! Einseitiger Diskurs über den Nahostkonflikt schadet immer jüdischen Menschen und kann daher kein antisemitismuskritischer Protest sein!

Letztendlich entstand auf der Demo wieder das Gefühl, instrumentalisiert zu werden für das Bedürfnis nach binärem Denken: die Veranstaltung der Alliance of Internationalist Feminists auf der einen Seite und die von feminism_unlimited auf der anderen.

Auch wurde über die gesamte Dauer der Auftaktkundgebung mit einer solchen Intensität und immer wieder wiederholt von der Gewalt gegen Jüd*innen und dem Allein-Gelassen-werden von Jüd*innen gesprochen. Es handelt sich dabei um Gewalt, die immer noch anhält. Der 7. Oktober ist für uns nicht vorbei. Die Geiselnahmen und der Raketenbeschuss sind nicht vorbei. Wir haben das nicht verarbeitet. Schock, Angst, Trauma wirken in uns.

Während der Kundgebung hielten wir uns an unsere jüdischen Freund*innen, wir plauderten, konnten nicht durchgängig zuhören und trotzdem sickerte das Gehörte in uns hinein. Und während wir an diesem sonnigen Nachmittag auf der Demo standen, die mit uns solidarisch sein wollte, fühlten wir uns plötzlich allein und gar nicht mehr als Teil der großen Menschenmenge um uns herum.

Die Veranstaltung wurde zwar von unterschiedlichen Menschen organisiert – darunter auch einige jüdische Personen und BiPoCs. Trotzdem war es eine vorwiegend weiß-christlich geprägte Veranstaltung. Wc-Deutsche können Gewalt gegen Jüd*innen anprangern, sich empören und mitfühlen, aber sie tun das aus einer sicheren inneren Distanz heraus. Wir dagegen wissen und fühlen ständig, dass wir mit dem Hass gegen Jüd*innen, der diese Gewalt antreibt, explizit mit-gemeint sind. Die Redebeiträge lösten eine Getroffenheit und einen Schmerz in uns aus, der uns isolierte und einsam machte.

Die Situation fühlte sich für uns nicht an wie ein empowernder feministischer-Kampftag-Protest.

Kann es sein, dass die Organisator*innen der Demo uns nicht mitgedacht hatten? Dass diese Demo nicht für die Betroffenen der hier benannten Gewalt gedacht war?

Dafür sprach auch, dass wir seit unserem Eintreffen am Versammlungsort immer wieder fotografiert wurden. Die Demo war voller Kameras: Große Kameras, Kleine Kameras, Spiegelreflex Kameras, Handykameras, Kameras mit Mini-Linse und Kameras bei der die Linse fast so lang war wie ein Arm. Und sie waren alle auf unsere kleine jüdische Gruppe gerichtet.

Ob die Fotograf*innen zur Demo gehörten oder für welches Medium sie fotografierten war für uns nicht ersichtlich. Mal wurden wir nach unserem Einverständnis gefragt, mal machten Personen ohne zu fragen Fotos von uns – mit unseren Plakaten, auf denen wir uns als jüdisch positionierten. Zögerten wir bei Foto-Anfragen, wurde nur noch ein weiteres Mal nachgefragt oder wir bekamen Regie-Anweisungen, welche Plakate und Personen im Bild zu sehen sein oder in welchem Winkel wir zur Sonne stehen sollten. Es fühlte sich an, als wären wir als sichtbare Jüd*innen seltene Ausstellungsstücke, deren Anwesenheit so aufregend und exotisch ist, dass mensch sich unserer durch das Fotografieren habhaft machen wollte. Als hätten Menschen einen Anspruch auf diese Bilder von uns. Wir waren dem ohne Schutz ausgesetzt, wir waren damit allein und wir wurden dadurch anders gemacht. Nichts daran war für uns empowernd.

Letztendlich wurden wir so häufig angesprochen oder einfach fotografiert, dass wir anfingen, uns zu vermummen, uns die Schilder vors Gesicht zu halten und nach einer Weile begannen, die Plakate umzudrehen, damit wir für einen Moment Ruhe hatten. Nicht nur war das extrem unangenehm, wir fragen uns auch was die Personen zum Ziel hatten, als sie mit ihren Kameras aufkreuzten? Ein politischer Protest ist kein Fotowettbewerb. Und es geht nicht klar, Personen bei linken Protest-Aktionen zu fotografieren (insbesondere ungefragt!) und dann diese Fotos auf Instagram und Co. zu veröffentlichen. Warum das nicht klar geht? Weil „öffentlich“ bedeutet „Jede*r kann diese Fotos sehen“ und in einem Land mit steigenden Umfragewerten der AFD und tausenden untergetauchten Nazis, kann das für Menschen, die an einer linken Demo teilgenommen haben und dann auch noch jüdisch positioniert sind, sehr gefährlich werden.

Nach zwei Stunden Auftakt-Kundgebung und Demo gaben wir erschöpft auf. Dabei hatten wir uns im Vorhinein ins Besondere auf die Beiträge von Hengameh und Latkes* gefreut. Am Ende blieb das Gefühl, „auch diese Demo ist nicht für uns gedacht“. Und wieso hatten wir es gewagt, etwas anderes zu erwarten?

Von der Organisator*innen hätten wir uns Ansagen gewünscht, dass Protestierende nicht fotografiert werden sollen – oder wenn doch, die Fotos verpixelt ins Netz gestellt werden sollten. Jetzt sind viele der Fotos mit klar erkennbaren Gesichtern auf Instagram zu sehen und @feminism.unlimited wurde markiert. Auch war die schiere Menge an Kameras auffallend. Richtet das nächste Mal eure Kameras auf die Polizeigewalt auf Demos und nicht auf die Mitdemonstrierenden!

Außerdem hätten wir uns von der Demo gewünscht, dass auch über das Leid der Zivilgesellschaft in Gaza gesprochen wird. Immerhin wurde im Aufruf von universeller feministische Solidari​​​​​​​tät gesprochen. Die Thematisierung der sexualisierten Gewalt gegen palästinensische Frauen relativiert nicht die Gewalt an israelischen Frauen.

Wir können nicht nur beides erwähnen, sondern müssen das tun!

geschrieben von drei FLINTA* des Jüdischen Revolutionskomitees

Statement zum aktuellen Diskurs über den Gaza-Krieg

Berlin, November 2023
english below

Mehr als zwei Jahre nach dem letzten Ausbruch des Konflikts in Palästina-Israel 2021 ist die Erschütterung für Jüd*innen auf der ganzen Welt zurück – stärker als in den Jahren zuvor. Unsere Stimmen und Perspektiven dazu sind vielfältig, wir sind eine linke Gruppe von migrantischen Jüd*innen, bukharischer, mizrachischer und aschkenasischer Herkunft in Deutschland.

Was uns eint, ist die Fassungslosigkeit, mit der wir auf den Schrecken blicken, der in Israel am 7.Oktober stattgefunden hat. Zugleich müssen wir erleben, wie eine rechtsradikale israelische Führung die Angehörigen der Geiseln ignoriert und ihre militärische Kraft auf den Gazastreifen regnen lässt und damit tausende Menschen in den Tod reißt.

Noch während Freund*innen und Familie in Israel und die von der Welt vergessenen Menschen in Gaza ihre Toten begraben, ist der Kampf ums Narrativ in vollem Gange. Von rechts bis links hören wir ohrenbetäubendes Geschrei, das Menschlichkeit und Mitgefühl vermissen lässt oder wir hören Schweigen: das vielsagende Schweigen unserer politischen Verbündeten und Freund*innen und unser eigenes ängstliches. Es scheint, dass insbesondere polarisierende Stimmen von Leuten, die keinen eigenen Bezug zu Palästina-Israel haben, die Situation eher eskalieren und für ihre Zwecke anheizen.

Zivilgesellschaftliche Friedensinitiativen vor Ort bemühen sich seit Jahrzehnten, aus der Kriegs-Logik „Wir oder sie“ herauszubrechen, hin zu einer Haltung von „Wir mit ihnen“. Der polarisierende Diskurs hier macht diese deeskalativen Bemühungen allerdings zunichte. Wir hören die immer wieder gleichen, lauten Positionen, die sich hinter einer diskursiven Frontlinie verschanzt haben.

Die Deutsche Mehrheitsgesellschaft hilft keinem jüdischen Menschen weiter, wenn sie rassistische, menschenverachtende Abschiebepolitik befeuert und durch ‚importierten Antisemitismus‘ zu legitimieren versucht. Die rassistische Migrations-Politik Deutschlands und der EU belegt seit Jahren sehr eindrücklich, dass diese Gesellschaft nach wie vor fokussiert darauf ist, „Fremde_s“ aus Deutschland und Europa auszusondern, ja gar nicht erst Deutschen Boden erreichen zu lassen. Es ist haarsträubend wie der deutsche Mainstream unisono von „importiertem Antisemitismus“ redet – und über 90% aller antisemitischen Gewalttaten nach wie vor von Deutschen ausgehen! Eine so dreist verlogene Gesellschaft ist kein Garant für unsere Sicherheit, Rassismus wird uns nicht vor Antisemitismus schützen!

Deutsche Politiker*innen sollen endlich aufhören, die Schuld ihrer Eltern- und Großelterngeneration auf Minderheiten zu verschieben und zuallererst vor ihrer Haustür kehren. Es wäre lächerlich zu behaupten, Deutschland hätte seinen Antisemitismus oder seine NS-Kontinuitäten aufgearbeitet und eine respektvolle Haltung gegenüber uns Jüd*innen eingenommen. Antisemitismus ist fest verankert in der Mitte der Deutschen Gesellschaft und die allzeit philosemitischen Auswüchse sind billige Versuche, die ausgebliebene Aufarbeitung von NS-Strukturen und die tatsächliche Toleranz gegenüber Nazis zu übertünchen, während ‚Jugendsünde‘-Nazis (wie Aiwanger) in Ministerposten auf großen Zuspruch stoßen, NS-Strukturen in Verfassungsschutz und Polizei toleriert und gefördert werden.

Auch genau deswegen sollten wir es nicht diesen (pseudo-aufgeklärten) Deutschen überlassen, den Antisemitismus in unseren migrantischen Reihen zu kritisieren. Aber stattdessen verschließen die migrantische Linke und anti-zionistische Jüd*innen ihre Augen vor dem nicht von der Hand zu weisenden Antisemitismus in „unseren“ Reihen. Während die migrantische Linke antizionistische Positionen bezieht, finden sich antizionistische Jüd*innen dabei oft in eine Token-Rolle wieder. Für große Teile dieser Linken gilt Israel als kolonialer Staat, begründet von weißen Siedler*innen.

In Deutschland werden Jüd*innen nicht als ein Teil einer migrantischen Community gesehen und direkt oder indirekt aus ihr ausgeschlossen. Ihnen werden Privilegien zugeschrieben und Betroffenheiten abgesprochen. Dabei geht der Diskurs der migrantischen Linken an vielen Stellen dem philosemitischen deutschen Narrativ über sich selbst auf den Leim. Das Narrativ von den aschkenasischen, Euro-amerikanischen Jüd*innen, die Fokussierung auf deren Erfahrungen schließt unsere Realitäten und unsere Perspektiven aus, lässt uns mit unserem Schmerz und unserer Trauer alleine.

Von der Vertreibung uralter jüdischer Gemeinden aus der sog. MENA-Region mit dem Aufkommen des arabischen Nationalismus, ist selten zu hören. Die Mizrahim und später auch die Jüdischen Menschen aus Äthiopien (Beit Israel) und viele andere Jüdische Gemeinden wie z.B. die Jüdische Gemeinde aus Cochin (Indien) oder den Jüdischen Gemeinden aus China usw. repräsentieren mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels und sie prägen damals und heute tiefgreifend die Kultur, Politik und Religion Israels.
Israel gänzlich als europäisches Kolonialprojekt weißer Jüd*innen zu betiteln, negiert dementsprechend nicht nur die antisemitische Gewalt im Westen, sie negiert auch in rassistischer Weise unsere nicht-ashkenasische Vertreibungsgeschichte aus dem Globalen Süden.

Unser Eindruck von sehr vielen prominenten antizionistischen Juden ist, dass diese nach einer zunächst zionistischen Sozialisierung eine 180° Wende hinlegen – und sich schließlich in einer Haltung der „Zionist-Guilt“ verschanzen.
So richtig und wertvoll deren Analyse von „Jüdischer Vorherrschaft in Palästina-Israel“ bisweilen ist – in dieser jüdisch-antizionistischen Position kommt unsere Lebensrealität, in antisemitischen, auch nicht-europäischen, Gesellschaften sozialisiert zu sein, zu kurz.

Wir halten es daher für inakzeptabel, den nicht von der Hand zu weisenden Antisemitismus in unseren migrantischen Reihen zu beschweigen, so wie es jene antizionistischen Jüd*innen tun. Es ist das Schweigen darüber, das besonders laut spricht.

Sehr häufig findet sich in diesem Zusammenhang in der migrantischen Linken eine abstruse, selektive und autoritäre Bezugnahme auf Identitäre Kategorien: alle möglichen inhaltlichen Positionen werden mit der Unterdrückung der eigenen Identität begründet; alle möglichen Aussagen und Handlungen – wie sogar die Massaker der Hamas – werden unter das Banner des Antikolonialismus gereiht, bloß weil es (zweifellos) Unterdrückte sind, die hier handeln. Bizarr ist, wenn Kritik an BIPOCs pauschal als rassistisch abgewehrt wird – auch wenn es andere BIPOCs oder jüdische Schwarze und Jüd*innen of Color sind, die diese Kritik formulieren. Wenn Kritik wiederum von BIPOCs geäußert wird, erleben wir es, dass den kritischen BIPOCs selbst ihre Identität abgesprochen wird – sie seien zu assimilert, gar keine richtigen Migras; wenn Du Dich als Migrant*in gegen Antisemitismus aussprichst, bist Du gleich ein AntiD – unabhängig davon, ob Du Migrant und Jüd*in bist. Um sich schlussendlich gegen Kritik abzuschirmen, werden dann oft jene antizionistischen Jüd*innen hervorgeholt: mensch hat ja sogar Juden als Genoss*innen, dann kann mensch ja nicht selbst antisemitisch sein. So wie alle Männer, die Frauen als Genoss*innen haben nicht sexistisch sein können. Logic.
Wir alle wissen, dass es in POC-Gemeinschaften auch in gewissem Maße anti-schwarzen, anti-kurdischen oder anti-arabischen Rassimus gibt – und eben auch andere Unterdrückungsformen, wie Antisemitismus. Dies sollten wir nicht weiter ignorieren, sondern durch solidarische Kritik daran wachsen, diesen Unterdrückunsformen in unseren Reihen zu begegnen.

Allseits werden Jüd*innen die Attribute weiß-sein und privilegiert-sein zugeschrieben – viele gojische Migrant*innen zeigen sich völlig ignorant gegenüber antisemitischer Unterdrückung, welche wir sowohl hier erleben, als auch aus unseren Herkunftsländern kennen. Letztlich ist das Ignorieren dieser Erfahrungen eine Form von Antisemitismus, die zugleich fühlbar und doch schwer zu benennen ist.
Antisemitismuserfahrungen aus unseren zum Teil postsowjetischen Herkunftsländern wurden von unseren Eltern und Großeltern oft nicht direkt verbalisiert. An die nächste Generation wurde weitergegeben: „Sag bloß niemandem, dass du jüdisch bist. Trag den Magen David nicht offen.“ Das haben wir als deren Kinder gelernt, es wurde uns von klein auf beigebracht. Diese Sorgen haben hierzulande wenig an Berechtigung verloren, ihre Aktualität ist heute sogar spürbarer denn je.
Migrantisch-linke Solidarität bezüglich antisemitischer Übergriffe und Anschläge in Deutschland fehlt schmerzlich in diesen Tagen.

Die in Deutschland lebenden Shoah-Überlebenden wurden um ihre Familienmitglieder beraubt, um eine glückliche Kindheit, ihre Gesundheit und den Besitz der Familie.
Geringe oder sehr späte Entschädigungszahlungen im Rahmen des ‚Widergutmachungsabkommens‘ verhindern nicht, dass in Deutschland 93% der Shoah-Verfolgten aus den GUS im Alter von Grundsicherung und in Armut leben.
Kontingentflüchtlinge, die einen Großteil der in Deutschland lebenden Jüd*innen ausmachen, wurden von den Ausländerbehörden vergleichsweise weniger schikaniert, sie mussten i.d.R. nicht um ihren Aufenthaltsstatus bangen.
Davon abgesehen sind sie dem strukturellen Rassismus in Deutschland ausgesetzt, der heute unvermindert weiterbesteht, der Umverteilung nach Bundesländern, Gemeinschaftsunterbringung und Präkarisierung.
Ausbildungsabschlüsse von Kontingentflüchtlingen wurden in der Regel nicht anerkannt. Viele haben unter prekären und ausbeuterischen Bedingungen in deutschen Fabriken und Pflegeheimen geschuftet.
Die Zuschreibung von angeblichen jüdischen Privilegien kommt einer Unsichtbarmachung dieser Geschichten gleich.

Uns entgeht nicht wie in Zeiten eines erneuten Kriegsausbruchs zugleich antiplästinensischer und antimuslimischer Rassismus entflammt. Wir kritisieren die Einseitigkeit von sehr vielen pro-israelischen Stimmen klar und stellen uns solidarisch gegen die nicht zu leugnende massive Unterdrückung von Palästinenser*innen – hier und heute, in Palästina-Israel und in Deutschland. Auch in diesen „unseren Reihen“ erleben wir zur Zeit ein Aufflammen von „Freund-Feind“-Denken und offenem Anti-Arabischen Rassismus; wir erleben eine pauschale Dämonisierung von Palästinensischen Stimmen, Palästinensischen Flaggen, Kūfiyyāt – alles im Namen eines vermeintlichen Schutzes von uns Jüd*innen.
Wir erleben in unseren jüdischen Reihen ein Schweigen zu der Kriegstreiberei in Palästina-Israel, ein Zögern, dies klar abzulehnen.
Ja, Israel soll sich verteidigen – dazu hat Israel auch alle Mittel. Aber wie viele Kriege (2008, 2012, 2014, 2021) sollen noch stattfinden, welche allesamt bislang keinen Frieden, keine Sicherheit gebracht haben? Wie viele unserer Angehörigen, Freund*innen sollen noch in diesen „Kriegen gegen den Terror“ sterben, die auch in anderen Ländern (Irak, Afghanistan, Lybien, Syrien…) schon keinen Frieden beschert haben? Es ist die immer gleiche Lösung: Gewalt gegen und Schikanierung von Palästinenser*innen, vermeintlich zur Verteidigung der eigenen Sicherheit – diese vermeintlichen „Lösungen“ bringen schon seit Jahrzehnten KEINE Sicherheit für niemanden, weder für Jüd*innen noch für Palästinenser*innen. Eine mantrahafte Israelsolidarität wollen wir nicht.

Auf arabisch-palästinensischen Demos in Neukölln sehen wir die traurigen und entsetzten Gesichter, die in Angst und Sorge um ihre Geschwister in Palästina bangen. Wir solidarisieren uns mit den Demonstrierenden, die trotz eines repressiven Staates, Politikbetriebes und einer gewaltbereiten Polizei ihr Grundrecht zu demonstrieren, wahrnehmen.

Aber die Demonstrationen und die Parolen, die dort gerufen werden so wie das Hinnehmen von Islamofaschistischen Elementen wecken bei uns auch Erinnerungen an die Erzählungen unserer Familien, die vor brutalen Pogromen (der muslimischen Mehrheitsgesselschaften) aus dem Jemen und aus Syrien fliehen mussten.

Wir wollen, dass insbesondere zivilgesellschaftliche Friedensinitiativen in Palästina-Israel, um mit ‚Oasis of Peace‘ ein Beispiel zu nennen, Gehör bekommen. Wir schließen uns deren Stimmen an und sind für die sofortige Freilassung aller Geiseln, die von der Hamas gefangen gehalten werden. Der Schutz von Zivilist*innen kann kurzfristig nur durch einen Waffenstillstand und langfristig nur durch Friedensverhandlungen erreicht werden.

Wir kämpfen für eine gemeinsame kritisch-solidarische jüdische migrantische Linke, die auf Seiten der Zivilist*innen in Palästina-Israel steht und die extremistischen Führungen beider Seiten entschieden ablehnt. Die Arbeit von Gruppen wie „Palestinians and Jews for Peace“ in Köln sowie viele weitere Inititativen in Palästina-Israel zeigen, dass Solidarität zwischen Jüd*innen und Palästinenser*innen möglich ist. Dass wir einander zuhören, diskutieren, gemeinsam aktiv sein können.

Wir schließen uns dem Statement aus Palästina-Israel, und dessen Kernaussagen an:
„Es besteht kein Widerspruch zwischen der entschiedenen Ablehnung der israelischen Unterjochung und Besatzung der Palästinenser und der unmissverständlichen Verurteilung brutaler Gewaltakte gegen unschuldige Zivilisten. In der Tat muss jeder konsequente Linke beide Positionen gleichzeitig vertreten.“
https://portside.org/2023-10-17/statement-behalf-israel-based-progressives-and-peace-activists-regarding-debates-over

geschrieben von drei Personen aus dem Jüdischen Revolutionskomitee