Kein feministischer Kampftag für Jüd*innen

Berlin, April 2024

Als wir ein paar Wochen vor dem 8. März 2024 zum ersten Mal den Demo-Aufruf von feminism_unlimited lasen, freuten wir uns: Endlich gab es eine feministisch-kämpferische Positionierung, die den selektiven Feminismus der letzten Monate in Bezug auf die Massaker am 7. Oktober kritisierte. Denn um solidarisch mit der palästinensischen Zivilbevölkerung zu sein, ist es nicht notwendig, die Gewalt vom 7. Oktober zu relativieren!

Wir – eine kleine Gruppe FLINTA*, ein Teil des Jüdischen Revolutionskomitees – gewannen den Eindruck, auf dieser Demo würde es beim Thema Israel-Palästina ausnahmsweise nicht darum gehen, sich auf eine Seite zu schlagen, sondern darum, menschlich und feministisch solidarisch mit den zivilen Opfern von Gewalt zu sein – solidarisch mit Jüd*innen und mit Palästinenser*innen, mit Kurd*innen, Jesid*innen, Afghan*innen, und vielen mehr.

Endlich, fünf Monate nach dem 7. Oktober hatten wir das Gefühl, gesehen zu werden; das Gefühl, dass wir bei einer linken feministischen Veranstaltung explizit mitgedacht wurden. Das war bisher in progressiven linken Kreisen keine Selbstverständlichkeit gewesen. Im Gegenteil: Das Schweigen, die Relativierung und Legitimierung der sexualisierten Gewalt an Jüd*innen war der Normalfall und nicht die Ausnahme. Die fehlende Solidarität wurde von der einen Seite des politischen Spektrums damit begründet, dass es sich bei den Massakern des 7. Oktobers um einen legitimen Akt des palästinensischen Befreiungskampfes handelte. Gleichzeitig wurden Jüd*innen von der anderen Seite für z.B. rassistische Narrative instrumentalisiert. Das ist für uns schmerzhaft.

Mehrere unserer Gruppenmitglieder besuchten in den letzten Jahren eine der größten Veranstaltungen am 8. März: die antirassistische Demo der Alliance of Internationalist Feminists. Diese Besuche waren für uns von Unsicherheiten und dem Eindruck geprägt, nicht mitgedacht zu werden und auch nicht willkommen zu sein.

Denn auf diesen Demos wehten ausschließlich palästinensische Nationalflaggen, auf Plakaten wurde die an der Münchner Flugzeugentführung beteiligte Leila Khaled als feministische Ikone gefeiert und auf der Website der Alliance wurde und wird in den Aufzählungen der Diskriminierungsformen, gegen die gekämpft wird, Antisemitismus oder Solidarität mit jüdischen FLINTA* noch nicht einmal erwähnt.

In diesem Jahr lasen wir in Instagram-Posts der Alliance of Internationalist Feminists Zitate wie „Sexual Assault as propaganda to facilitate Genocide in Gaza“ (https://www.instagram.com/p/C0kSxIpMwiO/?img_index=1). Die Teilnahme an so einer Demo, die Gewalt an Jüd*innen normalisiert und legitimiert ist für uns unmöglich. Die Vereinnahmung des Konflikts und das Beziehen komplett einseitiger Positionen führen zudem zu einer Polarisierung die sowohl für Jüd*innen als Palästinenser*innen gefährlich ist. Wir kritisieren eine solche Instrumentalisierung des Israel/Palästina Konflikts – besonders am feministischen Kampftag.

In dem Aufruftext von feminism_unlimited wurden dagegen Gleichzeitigkeiten zugelassen. Es klang als würden wir uns nicht zwischen „Free Gaza“ und „Bring them home“ entscheiden müssen; als würde es in diesem Jahr eine linke Demo geben, die sowohl unsere als auch andere Perspektiven und Erfahrungen mitdenkt und das feministische am 8. März Kampftag wieder in den Mittelpunkt rückt.

So liefen wir mit unserer kleinen Gruppe an diesem sonnigen 8. März gut gelaunt und positiv gespannt zur feminism_unlimited-Demo. Disclaimer: Unsere Demo-Teilnahme war leider trotzdem kein wohltuendes Erlebnis und wir möchten unsere Erfahrung teilen.

Drei Aspekte sollen bei unserer Kritik im Vordergrund stehen: die Diskrepanz zwischen Demo-Aufruf und -Umsetzung, zweitens unser Eindruck als Jüd*innen letztendlich „nicht-Teil-der-Demo-zu-sein“ und „nicht-mitgedacht-zu-werden“ und drittens die Fetischisierung jüdischer Personen auf der Demo.

Die Auftaktkundgebung thematisierte in mehreren Redebeiträgen den 7. Oktober, die sexualisierte Gewalt, die andauernde Gewalt der Geiselnahmen, das Schweigen feministischer Organisationen weltweit dazu und dass der Grundsatz, den Opfern zu glauben, nicht galt, weil diese jüdisch waren. Dass das ausgesprochen wurde und dass es mehrere Stellungnahmen von jüdischen Personen dazu gab, ist enorm wichtig.

Doch mit der Zeit entstand bei uns ein unangenehmes Gefühl im Bauch.

Uns fiel die Einseitigkeit der Redebeiträge der mehrheitlich jüdischen Akteur*innen auf. Es sprachen Sharon Adler AVIVA Berlin, Ruth Halperin-Kaddari, Hashomer Hatzair und die Gruppe Vitka. So sehr wir uns darüber freuten, verschiedene Redebeiträge aus jüdischer Perspektive zu hören – wo blieben die unterschiedlichen Perspektiven der Personen, die in Instagram-Videos für feminism_unlimited zur Demo aufgerufen hatten? Zwar wurde endlich angesprochen, was uns so lange im linken Diskurs gefehlt hatte, aber die andauernde Gewalt gegen palästinensische Zivilist*innen, der Krieg in Gaza, die sexualisierte Gewalt an palästinensischen Frauen und das rassistische Vorgehen gegen Palästinenser*innen in Deutschland wurde mit keinem Wort erwähnt?

Der Impuls der Demo, es solle AUCH, um jüdische FLINTA* gehen, wurde nun zu, es geht NUR um jüdische FLINTA*.

Doch wenn zwei Gruppen – wie beim Thema Israel/Palästina – so heftig und regelmäßig gegeneinander ausgespielt werden, ist es umso weniger okay, nur das Leid von einer Seite zu benennen. Und hierzu muss die Gewalt, die Menschen angetan wird, nicht hierarchisiert oder gleichgesetzt werden – sie ist unterschiedlich und individuell grausam.

Selektive Solidarität ist in beide Richtungen inakzeptabel, und wir trauen als Jüd*innen keiner Person über den Weg, die sich lautstark gegen Antisemitismus und für jüdische Frauen einsetzt und die Gewalt gegen andere Gruppen dabei ignoriert oder weniger wichtig findet.

Bei weiß-christlich sozialisierte Deutschen („wc-Deutschen“) vermuten wir in solchen Fällen „rein symbolische Antisemitismus-Kritik“ oder „wc-Deutsche, die auf der richtigen Seite der Geschichte stehen wollen“. Aber auch Jüd*innen reproduzieren selektive Solidarität. Wir finden es wichtig, sich kritisch mit den Effekten dieses Handelns auseinanderzusetzen.

Denn dieser einseitige Diskurs hilft Jüd*innen nicht! Im Gegenteil: Er ist sogar eine Gefahr für uns! Einseitiger Diskurs über den Nahostkonflikt schadet immer jüdischen Menschen und kann daher kein antisemitismuskritischer Protest sein!

Letztendlich entstand auf der Demo wieder das Gefühl, instrumentalisiert zu werden für das Bedürfnis nach binärem Denken: die Veranstaltung der Alliance of Internationalist Feminists auf der einen Seite und die von feminism_unlimited auf der anderen.

Auch wurde über die gesamte Dauer der Auftaktkundgebung mit einer solchen Intensität und immer wieder wiederholt von der Gewalt gegen Jüd*innen und dem Allein-Gelassen-werden von Jüd*innen gesprochen. Es handelt sich dabei um Gewalt, die immer noch anhält. Der 7. Oktober ist für uns nicht vorbei. Die Geiselnahmen und der Raketenbeschuss sind nicht vorbei. Wir haben das nicht verarbeitet. Schock, Angst, Trauma wirken in uns.

Während der Kundgebung hielten wir uns an unsere jüdischen Freund*innen, wir plauderten, konnten nicht durchgängig zuhören und trotzdem sickerte das Gehörte in uns hinein. Und während wir an diesem sonnigen Nachmittag auf der Demo standen, die mit uns solidarisch sein wollte, fühlten wir uns plötzlich allein und gar nicht mehr als Teil der großen Menschenmenge um uns herum.

Die Veranstaltung wurde zwar von unterschiedlichen Menschen organisiert – darunter auch einige jüdische Personen und BiPoCs. Trotzdem war es eine vorwiegend weiß-christlich geprägte Veranstaltung. Wc-Deutsche können Gewalt gegen Jüd*innen anprangern, sich empören und mitfühlen, aber sie tun das aus einer sicheren inneren Distanz heraus. Wir dagegen wissen und fühlen ständig, dass wir mit dem Hass gegen Jüd*innen, der diese Gewalt antreibt, explizit mit-gemeint sind. Die Redebeiträge lösten eine Getroffenheit und einen Schmerz in uns aus, der uns isolierte und einsam machte.

Die Situation fühlte sich für uns nicht an wie ein empowernder feministischer-Kampftag-Protest.

Kann es sein, dass die Organisator*innen der Demo uns nicht mitgedacht hatten? Dass diese Demo nicht für die Betroffenen der hier benannten Gewalt gedacht war?

Dafür sprach auch, dass wir seit unserem Eintreffen am Versammlungsort immer wieder fotografiert wurden. Die Demo war voller Kameras: Große Kameras, Kleine Kameras, Spiegelreflex Kameras, Handykameras, Kameras mit Mini-Linse und Kameras bei der die Linse fast so lang war wie ein Arm. Und sie waren alle auf unsere kleine jüdische Gruppe gerichtet.

Ob die Fotograf*innen zur Demo gehörten oder für welches Medium sie fotografierten war für uns nicht ersichtlich. Mal wurden wir nach unserem Einverständnis gefragt, mal machten Personen ohne zu fragen Fotos von uns – mit unseren Plakaten, auf denen wir uns als jüdisch positionierten. Zögerten wir bei Foto-Anfragen, wurde nur noch ein weiteres Mal nachgefragt oder wir bekamen Regie-Anweisungen, welche Plakate und Personen im Bild zu sehen sein oder in welchem Winkel wir zur Sonne stehen sollten. Es fühlte sich an, als wären wir als sichtbare Jüd*innen seltene Ausstellungsstücke, deren Anwesenheit so aufregend und exotisch ist, dass mensch sich unserer durch das Fotografieren habhaft machen wollte. Als hätten Menschen einen Anspruch auf diese Bilder von uns. Wir waren dem ohne Schutz ausgesetzt, wir waren damit allein und wir wurden dadurch anders gemacht. Nichts daran war für uns empowernd.

Letztendlich wurden wir so häufig angesprochen oder einfach fotografiert, dass wir anfingen, uns zu vermummen, uns die Schilder vors Gesicht zu halten und nach einer Weile begannen, die Plakate umzudrehen, damit wir für einen Moment Ruhe hatten. Nicht nur war das extrem unangenehm, wir fragen uns auch was die Personen zum Ziel hatten, als sie mit ihren Kameras aufkreuzten? Ein politischer Protest ist kein Fotowettbewerb. Und es geht nicht klar, Personen bei linken Protest-Aktionen zu fotografieren (insbesondere ungefragt!) und dann diese Fotos auf Instagram und Co. zu veröffentlichen. Warum das nicht klar geht? Weil „öffentlich“ bedeutet „Jede*r kann diese Fotos sehen“ und in einem Land mit steigenden Umfragewerten der AFD und tausenden untergetauchten Nazis, kann das für Menschen, die an einer linken Demo teilgenommen haben und dann auch noch jüdisch positioniert sind, sehr gefährlich werden.

Nach zwei Stunden Auftakt-Kundgebung und Demo gaben wir erschöpft auf. Dabei hatten wir uns im Vorhinein ins Besondere auf die Beiträge von Hengameh und Latkes* gefreut. Am Ende blieb das Gefühl, „auch diese Demo ist nicht für uns gedacht“. Und wieso hatten wir es gewagt, etwas anderes zu erwarten?

Von der Organisator*innen hätten wir uns Ansagen gewünscht, dass Protestierende nicht fotografiert werden sollen – oder wenn doch, die Fotos verpixelt ins Netz gestellt werden sollten. Jetzt sind viele der Fotos mit klar erkennbaren Gesichtern auf Instagram zu sehen und @feminism.unlimited wurde markiert. Auch war die schiere Menge an Kameras auffallend. Richtet das nächste Mal eure Kameras auf die Polizeigewalt auf Demos und nicht auf die Mitdemonstrierenden!

Außerdem hätten wir uns von der Demo gewünscht, dass auch über das Leid der Zivilgesellschaft in Gaza gesprochen wird. Immerhin wurde im Aufruf von universeller feministische Solidari​​​​​​​tät gesprochen. Die Thematisierung der sexualisierten Gewalt gegen palästinensische Frauen relativiert nicht die Gewalt an israelischen Frauen.

Wir können nicht nur beides erwähnen, sondern müssen das tun!

geschrieben von drei FLINTA* des Jüdischen Revolutionskomitees