Statement zum aktuellen Diskurs über den Gaza-Krieg

Berlin, November 2023
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Mehr als zwei Jahre nach dem letzten Ausbruch des Konflikts in Palästina-Israel 2021 ist die Erschütterung für Jüd*innen auf der ganzen Welt zurück – stärker als in den Jahren zuvor. Unsere Stimmen und Perspektiven dazu sind vielfältig, wir sind eine linke Gruppe von migrantischen Jüd*innen, bukharischer, mizrachischer und aschkenasischer Herkunft in Deutschland.

Was uns eint, ist die Fassungslosigkeit, mit der wir auf den Schrecken blicken, der in Israel am 7.Oktober stattgefunden hat. Zugleich müssen wir erleben, wie eine rechtsradikale israelische Führung die Angehörigen der Geiseln ignoriert und ihre militärische Kraft auf den Gazastreifen regnen lässt und damit tausende Menschen in den Tod reißt.

Noch während Freund*innen und Familie in Israel und die von der Welt vergessenen Menschen in Gaza ihre Toten begraben, ist der Kampf ums Narrativ in vollem Gange. Von rechts bis links hören wir ohrenbetäubendes Geschrei, das Menschlichkeit und Mitgefühl vermissen lässt oder wir hören Schweigen: das vielsagende Schweigen unserer politischen Verbündeten und Freund*innen und unser eigenes ängstliches. Es scheint, dass insbesondere polarisierende Stimmen von Leuten, die keinen eigenen Bezug zu Palästina-Israel haben, die Situation eher eskalieren und für ihre Zwecke anheizen.

Zivilgesellschaftliche Friedensinitiativen vor Ort bemühen sich seit Jahrzehnten, aus der Kriegs-Logik „Wir oder sie“ herauszubrechen, hin zu einer Haltung von „Wir mit ihnen“. Der polarisierende Diskurs hier macht diese deeskalativen Bemühungen allerdings zunichte. Wir hören die immer wieder gleichen, lauten Positionen, die sich hinter einer diskursiven Frontlinie verschanzt haben.

Die Deutsche Mehrheitsgesellschaft hilft keinem jüdischen Menschen weiter, wenn sie rassistische, menschenverachtende Abschiebepolitik befeuert und durch ‚importierten Antisemitismus‘ zu legitimieren versucht. Die rassistische Migrations-Politik Deutschlands und der EU belegt seit Jahren sehr eindrücklich, dass diese Gesellschaft nach wie vor fokussiert darauf ist, „Fremde_s“ aus Deutschland und Europa auszusondern, ja gar nicht erst Deutschen Boden erreichen zu lassen. Es ist haarsträubend wie der deutsche Mainstream unisono von „importiertem Antisemitismus“ redet – und über 90% aller antisemitischen Gewalttaten nach wie vor von Deutschen ausgehen! Eine so dreist verlogene Gesellschaft ist kein Garant für unsere Sicherheit, Rassismus wird uns nicht vor Antisemitismus schützen!

Deutsche Politiker*innen sollen endlich aufhören, die Schuld ihrer Eltern- und Großelterngeneration auf Minderheiten zu verschieben und zuallererst vor ihrer Haustür kehren. Es wäre lächerlich zu behaupten, Deutschland hätte seinen Antisemitismus oder seine NS-Kontinuitäten aufgearbeitet und eine respektvolle Haltung gegenüber uns Jüd*innen eingenommen. Antisemitismus ist fest verankert in der Mitte der Deutschen Gesellschaft und die allzeit philosemitischen Auswüchse sind billige Versuche, die ausgebliebene Aufarbeitung von NS-Strukturen und die tatsächliche Toleranz gegenüber Nazis zu übertünchen, während ‚Jugendsünde‘-Nazis (wie Aiwanger) in Ministerposten auf großen Zuspruch stoßen, NS-Strukturen in Verfassungsschutz und Polizei toleriert und gefördert werden.

Auch genau deswegen sollten wir es nicht diesen (pseudo-aufgeklärten) Deutschen überlassen, den Antisemitismus in unseren migrantischen Reihen zu kritisieren. Aber stattdessen verschließen die migrantische Linke und anti-zionistische Jüd*innen ihre Augen vor dem nicht von der Hand zu weisenden Antisemitismus in „unseren“ Reihen. Während die migrantische Linke antizionistische Positionen bezieht, finden sich antizionistische Jüd*innen dabei oft in eine Token-Rolle wieder. Für große Teile dieser Linken gilt Israel als kolonialer Staat, begründet von weißen Siedler*innen.

In Deutschland werden Jüd*innen nicht als ein Teil einer migrantischen Community gesehen und direkt oder indirekt aus ihr ausgeschlossen. Ihnen werden Privilegien zugeschrieben und Betroffenheiten abgesprochen. Dabei geht der Diskurs der migrantischen Linken an vielen Stellen dem philosemitischen deutschen Narrativ über sich selbst auf den Leim. Das Narrativ von den aschkenasischen, Euro-amerikanischen Jüd*innen, die Fokussierung auf deren Erfahrungen schließt unsere Realitäten und unsere Perspektiven aus, lässt uns mit unserem Schmerz und unserer Trauer alleine.

Von der Vertreibung uralter jüdischer Gemeinden aus der sog. MENA-Region mit dem Aufkommen des arabischen Nationalismus, ist selten zu hören. Die Mizrahim und später auch die Jüdischen Menschen aus Äthiopien (Beit Israel) und viele andere Jüdische Gemeinden wie z.B. die Jüdische Gemeinde aus Cochin (Indien) oder den Jüdischen Gemeinden aus China usw. repräsentieren mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels und sie prägen damals und heute tiefgreifend die Kultur, Politik und Religion Israels.
Israel gänzlich als europäisches Kolonialprojekt weißer Jüd*innen zu betiteln, negiert dementsprechend nicht nur die antisemitische Gewalt im Westen, sie negiert auch in rassistischer Weise unsere nicht-ashkenasische Vertreibungsgeschichte aus dem Globalen Süden.

Unser Eindruck von sehr vielen prominenten antizionistischen Juden ist, dass diese nach einer zunächst zionistischen Sozialisierung eine 180° Wende hinlegen – und sich schließlich in einer Haltung der „Zionist-Guilt“ verschanzen.
So richtig und wertvoll deren Analyse von „Jüdischer Vorherrschaft in Palästina-Israel“ bisweilen ist – in dieser jüdisch-antizionistischen Position kommt unsere Lebensrealität, in antisemitischen, auch nicht-europäischen, Gesellschaften sozialisiert zu sein, zu kurz.

Wir halten es daher für inakzeptabel, den nicht von der Hand zu weisenden Antisemitismus in unseren migrantischen Reihen zu beschweigen, so wie es jene antizionistischen Jüd*innen tun. Es ist das Schweigen darüber, das besonders laut spricht.

Sehr häufig findet sich in diesem Zusammenhang in der migrantischen Linken eine abstruse, selektive und autoritäre Bezugnahme auf Identitäre Kategorien: alle möglichen inhaltlichen Positionen werden mit der Unterdrückung der eigenen Identität begründet; alle möglichen Aussagen und Handlungen – wie sogar die Massaker der Hamas – werden unter das Banner des Antikolonialismus gereiht, bloß weil es (zweifellos) Unterdrückte sind, die hier handeln. Bizarr ist, wenn Kritik an BIPOCs pauschal als rassistisch abgewehrt wird – auch wenn es andere BIPOCs oder jüdische Schwarze und Jüd*innen of Color sind, die diese Kritik formulieren. Wenn Kritik wiederum von BIPOCs geäußert wird, erleben wir es, dass den kritischen BIPOCs selbst ihre Identität abgesprochen wird – sie seien zu assimilert, gar keine richtigen Migras; wenn Du Dich als Migrant*in gegen Antisemitismus aussprichst, bist Du gleich ein AntiD – unabhängig davon, ob Du Migrant und Jüd*in bist. Um sich schlussendlich gegen Kritik abzuschirmen, werden dann oft jene antizionistischen Jüd*innen hervorgeholt: mensch hat ja sogar Juden als Genoss*innen, dann kann mensch ja nicht selbst antisemitisch sein. So wie alle Männer, die Frauen als Genoss*innen haben nicht sexistisch sein können. Logic.
Wir alle wissen, dass es in POC-Gemeinschaften auch in gewissem Maße anti-schwarzen, anti-kurdischen oder anti-arabischen Rassimus gibt – und eben auch andere Unterdrückungsformen, wie Antisemitismus. Dies sollten wir nicht weiter ignorieren, sondern durch solidarische Kritik daran wachsen, diesen Unterdrückunsformen in unseren Reihen zu begegnen.

Allseits werden Jüd*innen die Attribute weiß-sein und privilegiert-sein zugeschrieben – viele gojische Migrant*innen zeigen sich völlig ignorant gegenüber antisemitischer Unterdrückung, welche wir sowohl hier erleben, als auch aus unseren Herkunftsländern kennen. Letztlich ist das Ignorieren dieser Erfahrungen eine Form von Antisemitismus, die zugleich fühlbar und doch schwer zu benennen ist.
Antisemitismuserfahrungen aus unseren zum Teil postsowjetischen Herkunftsländern wurden von unseren Eltern und Großeltern oft nicht direkt verbalisiert. An die nächste Generation wurde weitergegeben: „Sag bloß niemandem, dass du jüdisch bist. Trag den Magen David nicht offen.“ Das haben wir als deren Kinder gelernt, es wurde uns von klein auf beigebracht. Diese Sorgen haben hierzulande wenig an Berechtigung verloren, ihre Aktualität ist heute sogar spürbarer denn je.
Migrantisch-linke Solidarität bezüglich antisemitischer Übergriffe und Anschläge in Deutschland fehlt schmerzlich in diesen Tagen.

Die in Deutschland lebenden Shoah-Überlebenden wurden um ihre Familienmitglieder beraubt, um eine glückliche Kindheit, ihre Gesundheit und den Besitz der Familie.
Geringe oder sehr späte Entschädigungszahlungen im Rahmen des ‚Widergutmachungsabkommens‘ verhindern nicht, dass in Deutschland 93% der Shoah-Verfolgten aus den GUS im Alter von Grundsicherung und in Armut leben.
Kontingentflüchtlinge, die einen Großteil der in Deutschland lebenden Jüd*innen ausmachen, wurden von den Ausländerbehörden vergleichsweise weniger schikaniert, sie mussten i.d.R. nicht um ihren Aufenthaltsstatus bangen.
Davon abgesehen sind sie dem strukturellen Rassismus in Deutschland ausgesetzt, der heute unvermindert weiterbesteht, der Umverteilung nach Bundesländern, Gemeinschaftsunterbringung und Präkarisierung.
Ausbildungsabschlüsse von Kontingentflüchtlingen wurden in der Regel nicht anerkannt. Viele haben unter prekären und ausbeuterischen Bedingungen in deutschen Fabriken und Pflegeheimen geschuftet.
Die Zuschreibung von angeblichen jüdischen Privilegien kommt einer Unsichtbarmachung dieser Geschichten gleich.

Uns entgeht nicht wie in Zeiten eines erneuten Kriegsausbruchs zugleich antiplästinensischer und antimuslimischer Rassismus entflammt. Wir kritisieren die Einseitigkeit von sehr vielen pro-israelischen Stimmen klar und stellen uns solidarisch gegen die nicht zu leugnende massive Unterdrückung von Palästinenser*innen – hier und heute, in Palästina-Israel und in Deutschland. Auch in diesen „unseren Reihen“ erleben wir zur Zeit ein Aufflammen von „Freund-Feind“-Denken und offenem Anti-Arabischen Rassismus; wir erleben eine pauschale Dämonisierung von Palästinensischen Stimmen, Palästinensischen Flaggen, Kūfiyyāt – alles im Namen eines vermeintlichen Schutzes von uns Jüd*innen.
Wir erleben in unseren jüdischen Reihen ein Schweigen zu der Kriegstreiberei in Palästina-Israel, ein Zögern, dies klar abzulehnen.
Ja, Israel soll sich verteidigen – dazu hat Israel auch alle Mittel. Aber wie viele Kriege (2008, 2012, 2014, 2021) sollen noch stattfinden, welche allesamt bislang keinen Frieden, keine Sicherheit gebracht haben? Wie viele unserer Angehörigen, Freund*innen sollen noch in diesen „Kriegen gegen den Terror“ sterben, die auch in anderen Ländern (Irak, Afghanistan, Lybien, Syrien…) schon keinen Frieden beschert haben? Es ist die immer gleiche Lösung: Gewalt gegen und Schikanierung von Palästinenser*innen, vermeintlich zur Verteidigung der eigenen Sicherheit – diese vermeintlichen „Lösungen“ bringen schon seit Jahrzehnten KEINE Sicherheit für niemanden, weder für Jüd*innen noch für Palästinenser*innen. Eine mantrahafte Israelsolidarität wollen wir nicht.

Auf arabisch-palästinensischen Demos in Neukölln sehen wir die traurigen und entsetzten Gesichter, die in Angst und Sorge um ihre Geschwister in Palästina bangen. Wir solidarisieren uns mit den Demonstrierenden, die trotz eines repressiven Staates, Politikbetriebes und einer gewaltbereiten Polizei ihr Grundrecht zu demonstrieren, wahrnehmen.

Aber die Demonstrationen und die Parolen, die dort gerufen werden so wie das Hinnehmen von Islamofaschistischen Elementen wecken bei uns auch Erinnerungen an die Erzählungen unserer Familien, die vor brutalen Pogromen (der muslimischen Mehrheitsgesselschaften) aus dem Jemen und aus Syrien fliehen mussten.

Wir wollen, dass insbesondere zivilgesellschaftliche Friedensinitiativen in Palästina-Israel, um mit ‚Oasis of Peace‘ ein Beispiel zu nennen, Gehör bekommen. Wir schließen uns deren Stimmen an und sind für die sofortige Freilassung aller Geiseln, die von der Hamas gefangen gehalten werden. Der Schutz von Zivilist*innen kann kurzfristig nur durch einen Waffenstillstand und langfristig nur durch Friedensverhandlungen erreicht werden.

Wir kämpfen für eine gemeinsame kritisch-solidarische jüdische migrantische Linke, die auf Seiten der Zivilist*innen in Palästina-Israel steht und die extremistischen Führungen beider Seiten entschieden ablehnt. Die Arbeit von Gruppen wie „Palestinians and Jews for Peace“ in Köln sowie viele weitere Inititativen in Palästina-Israel zeigen, dass Solidarität zwischen Jüd*innen und Palästinenser*innen möglich ist. Dass wir einander zuhören, diskutieren, gemeinsam aktiv sein können.

Wir schließen uns dem Statement aus Palästina-Israel, und dessen Kernaussagen an:
„Es besteht kein Widerspruch zwischen der entschiedenen Ablehnung der israelischen Unterjochung und Besatzung der Palästinenser und der unmissverständlichen Verurteilung brutaler Gewaltakte gegen unschuldige Zivilisten. In der Tat muss jeder konsequente Linke beide Positionen gleichzeitig vertreten.“
https://portside.org/2023-10-17/statement-behalf-israel-based-progressives-and-peace-activists-regarding-debates-over

geschrieben von drei Personen aus dem Jüdischen Revolutionskomitee